Kirche St. Nikolaus in Bludesch Zitz

Nehmen wir an, ein Bewohner aus dem beginnenden 14. Jahrhundert des Ortes Zitz – heute ein Ortsteil von Bludesch – würde durch mysteriöse Umstände nach nächtlichem Schlaf in unserer Gegenwart aufwachen: Außer den Bergen des Walgaus erinnert ihn nichts an seinen Heimatort. Er ist in einer ihm völlig fremden Welt. Doch dann plötzlich hört er einen vertrauten Klang. Die Glocken von St. Nikolaus. Sofort eilt er zur Kirche. Vor sich sieht er nahezu unverändert den aus groben Lutzsteinen gemauerten Turm mit seiner steinernen Spitze. Er betritt das Kircheninnere und dreht sich zur Westwand um. Tatsächlich, die Wand ist  mit dem Jüngsten Gericht bemalt, allerdings beraubt seiner frischen, leuchtenden Farben und offensichtlich stark gealtert und verwittert.

Der romanische Turm ist etwa 700 Jahre alt. Die Glocken wurden im 13. Jahrhundert gegossen. Der untere Turmteil ist möglicherweise noch 300 Jahre älter. Es ist einer der wenigen Kirchtürme in Vorarlberg, die in seiner mittelalterlichen Form bis auf den heutigen Tag unverändert erhalten sind. Die altertümlichen, weit ausladenden Glocken sind die ältesten im Land.

Die Westwand, an deren Innenseite Himmel und Hölle dargestellt sind, stammt ebenfalls aus dieser Zeit. Die Menschen, die nach der Messe die Kirche verließen, sollten vom Weltenrichter Christus, der oberhalb der Türe thront, gewarnt sein. Aus seinem Mund ragen zwei Schwerter. In der Johannes Offenbarung heißt es: „In seiner rechten hielt er sieben Sterne und aus seinem Mund kam ein zweischneidiges Schwert.“  Die Höllendarstellung auf der rechten Wandseite wurde in alten Zeiten von den Leuten als durchaus realistisch wahrgenommen.

In der obersten Reihe der rechten Wandhälfte sind die sieben Todsünden dargestellt. Eine Ebene darunter ist der Zug der Verdammten zu sehen, die der Höllenstrafe zugeführt werden.  Auf der untersten Ebene ist eine der Höllenstrafen dargestellt zu sehen. Ein Teufel tanzt um einen Kessel, in dem augenscheinlich die Verdammten gesotten werden.  Auf der linken Wandseite, also zur rechten des Weltenrichters Christus, der von seiner Mutter und seinem Lieblingsjünger Johannes flankiert wird, sind die Seligen zu sehen, denen das Himmelreich bestimmt ist.

Auch an den anderen Wänden wurden Malereien freigelegt. Beginnend bei der Nordwand mit der Erschaffung Evas aus der Rippe Adams geht es weiter mit dem Sündenfall und der Vertreibung aus dem Paradies, Maria Verkündigung, die Flucht nach Ägypten.

1948 wurden Malereien aus dem ersten Drittel des 14. Jahrhunderts wiederentdeckt, die dann freigelegt und konserviert wurden.  Eine Sensation war die Entdeckung der bisher verborgenen Sockelmalerei an der Nordseite. Zu sehen sind Engel, die eine Vorhangdraperie halten.  Diese Wandmalereien sind keine „Fresken“ sondern „Seccomalerei“. Dabei werden die Erdfarben auf trockenen Kalkuntergrund aufgetragen. Bei der Freilegung und Restaurierung 1948 wurden aus heutiger Sicht leider sehr raue Mittel angewandt, wodurch Schäden entstanden sind. Dennoch sind die Wandmalereien die Sensation der Nikolauskirche und ein großartiges Stück heimischer Kultur- und Kirchengeschichte.

Noch etwas wird unserem mittelalterlichen Zeitreisenden auffallen, die Kirchenbänke. So etwas hat es zu seiner Zeit noch nicht gegeben.  Sie wurden im Jahre 1615 geschreinert.

Tschann blickt weiter Richtung Chor. Ihm fällt auf, dass dieser geheiligte Raum jetzt größer ist und nicht mehr rund, sondern rechteckig. Besonders aber sticht ihm der seltsam fremdartig wirkende Hochalter ins Auge. Der aus dem Jahre 1631 stammende barocke Altar mit seinem seitlichen Schnörkeldekor trägt ein gerades, geschlossenes Gebälk mit Voluten (Schnecken). Tschann vermisst die klaren Strukturen des alten Altares und vor allem die klaren, symmetrisch aufgebauten ikonenhaften Altartafeln. Statt dessen wird ihm fast schwindelig angesichts der wild durcheinander gewirbelten Leiber der Heiligen, die sich um die Himmelskönigin Maria scharen. Auf dem runden Oberbild ist ein alter Mann mit Bart zu sehen, den Tschann nur sehr schwer als Gottvater identifizieren kann, da er nur symbolische Darstellungsformen wie Dreieck oder die segnende Hand Gottes kennt. Auch die beiden Seitenaltäre von 1634 sind für ihn kaum zu entschlüsseln. Auf dem linken Seitenaltar ist eine Schutzmantelmadonna mit Dominikus und Katharina von Siena zu sehen. Im rechten Seitenaltar sind Katharina und Agatha dargestellt. Tschann wendet seinen Blick ab. Seine Augen suchen Halt an den einfachen, klaren Wandmalereien der Seitenwände. Doch da war ja nicht mehr viel zu sehen. Außerdem haben die großen Fenster anstelle der kleinen, oben gerundeten romanischen Lichteinlässen zwar den Raum stark aufgehellt, allerdings auf Kosten der Malereien. Die Bilder haben ihm immer die Geschichten aus der Bibel erzählt. Im ganzen Ort war der Pfarrer der einzige, der lesen konnte und dazu musste man auch Latein können. Zur Zeit Tschanns wurde im Ort zwar noch eine Art Vulgärlatein gesprochen, das Rätoromanische, doch das hatte sich schon sehr weit vom klassischem Latein entfernt. Tschann erblickt über dem Chorbogen eine Kreuzigungsgruppe auf einem Balken, der die beiden Seitenaltäre verbindet. Obwohl auch diese Skulpturen barock sind, erscheinen sie ihm klarer und geordneter. Darüber wölbt sich ein neueres hölzernes Tonnengewölbe aus den 60er Jahren.  Er blickt auf den Boden. Die ehemals „walgautypische“ Kleinpflasterung, die sogenannte „Lutzbolla Bsetzi“  mit 4 bis 6 cm großen rundovalen Flusssteinen, wurde 1965 durch Terracottaziegel ersetzt, die im Fischgratmuster gelegt sind. Tschann findet den Boden sehr schön und vornehm. Der zeitliche Urgrund der Kirche reicht weit in die Vergangenheit. Der vorromanische Wandputz entstand im 7. oder 8. Jahrhundert. Noch weiter in die Vergangenheit weisen zwei Schuh breite, in Lehmverband mit Rollkieseln bestehende Fundamente. Archäologisch noch nicht abgesichert könnte der Bau der Kirche sogar auf das 5. Jahrhundert zurückgehen. Ein Vergleich mit der St. Mauritius Kirche in Nenzing legt dies nahe.

Tschann verlässt die Kirche, wacht in seinem Bett auf. Wieder in seiner Zeit  wundert er sich über den seltsamen Traum.